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Wirecard und andere Bilanzierungsskandale

Ein Dax-Unternehmen löst sich einfach in Luft auf. Oder hat so nie real existiert. Wirecard. Und wie so oft war das Top-Management vorher nicht nur involviert, nein, es hat den Bilanzbetrug sogar vorangetrieben. Also leider kein singulärer Einzelfall, bei dem alle jetzt mit offenen Mündern und großen Augen entgeistert umherschauen können. Der Fall Wirecard reiht sich ein in die lange Geschichte von Bilanzierungsskandalen und Finanzbetrügereien.

 

Ich will mit euch einen Ausflug zu ein paar solcher Skandale machen, um Muster herauszuarbeiten, die  bei solchen Skandalen immer wieder vorzufinden sind. Also ein bisschen Forensik betreiben. Danach kommt dann Wirecard dran. Wer hat wann bereits davor vergeblich gewarnt, wer hätte es wissen müssen und so weiter. 

 

In der Literatur und in Filmen werden viele solcher Bilanz- und Finanzbetrügereien verarbeitet. An Stoff mangelt es ja nicht. Als aller erstes fällt mir Friedrich Schillers Drama »Die Räuber« ein. Kein Zufall, ich lebe ja in der Geburtsstadt Schillers, Marbach am Neckar. Schiller hat im Jahr 1781, also vor etwas mehr als vor zweihundert Jahren, das Drama »Die Räuber« veröffentlicht. Inspiriert wurde er dabei von einem Betrug, dem sein Vater auf dem Leim ging. Schillers Vater investierte so wie viele andere Zeitgenossen damals in eine vielversprechende Silbermine. Das klitzekleine Problem: Bei uns hier in der Gegend gibt es kein Silber. Okay, es gibt die Silbermine. Sie wurde damals extra für Showzwecke in einem dünn besiedelten Waldgebiet bei den Ortschaften Jux und Spiegelberg angelegt, falls tatsächlich ein Investor mal auf den völlig verrückten Gedanken kommen sollte, sich auf den Weg in die schwäbischen Karpaten zu machen. So bezeichneten die Leute damals (und manche noch heute) die Gegend etwa zwanzig Kilometer entfernt von Marbach. Damals halt schwer erreichbar. Heute durchziehen die sogenannten Räuberwanderwege das romantische Wald- und Wiesengebiet.

 

Schillers Vater ging den Betrügern also auf den Leim und hat sein Geld verjuxt, wie man in Jux so sagt. Er besuchte die Silbermine nicht. Und selbst wenn, hätte er dann den Betrug bemerkt? Wohl kaum. Dazu hätte er sich in der Fake-Mine schon sehr genau umschauen müssen und Fachwissen besitzen müssen. Nicht machbar. Schiller nannte den Räuber in seinem Drama dann auch Spiegelberg.

 

Erstes erkennbares Muster:

Die Betrüger betreiben einen gewissen Aufwand, um Ihren Investoren eine perfekt vorgespielte Illusion zu bieten. Hey, schau her, was ich Tolles mache. Schnell, greife zu, bevor andere das Glück finden und viel Geld machen und du die Chance verpasst.

 

Der Schotte Gregor MacGregor ging etwa vierzig Jahre nach dem schwäbischen Silberminenskandal grob gesagt drei Nummern größer vor. Wir befinden uns so etwa im Jahr 1820, Berichte aus Amerika werden bei uns in Europa mit großer Neugierde aufgenommen. Der Kontinent der unbegrenzten Möglichkeiten. MacGregor betrieb ein ausgeklügeltes Marketing, bei dem er das Land Poyais in höchsten Tönen lobte. Das Land existierte in Wahrheit gar nicht, sondern war nur eine Erfindung von ihm. Er ließ Poyais-Dollar drucken und setze Gerüchte in den Umlauf, dass es dort Silber und Gold im Überfluss gebe. MacGregor hat sogar Staatsanleihen ausgegeben, die ihm aus den Händen gerissen wurden. Dummerweise haben einige Leute ihn zu sehr beim Wort genommen, und wollten in das gelobte Land auswandern. Anstatt schöner Häfen und betriebsamen Handels erwartete sie reine Natur, sie strandeten an einer unwirtlichen Küste und starben fast alle an Tropenkrankheiten.

Zweites erkennbares Muster:

Die Betrüger sind sehr kreativ beim Aufbau einer Erfolgsgeschichte, so dass man ihren Betrug nicht so leicht durchschaut.

 

Im Jahr 2001 machte dann der Skandal um den US-Amerikanischen Energieriesen Enron Schlagzeilen. Schadenssumme so etwa 60 Milliarden US-Dollar. Das eigentliche Kerngeschäft lieferte keine guten Zahlen. Der CFO initiierte die Gründung vieler kleiner Beteiligungen, die von Enron-Angestellten oder deren Verwandten geführt wurden. Enron hielt keine 100 Prozent an den Firmen, so dass sie nicht transparent in den Büchern auftauchten. Aufgabe der vielen kleinen gegründeten Beteiligungen war es, Schulden zu machen und das Kapital dann an Enron fließen zu lassen. Mitarbeiter wurden durch eine zweifelhafte Firmenkultur gezwungen, Grenzen zu überschreiten. Interne inoffizielle Ranking-Listen über die Mitarbeiter wurden geführt. Wer unten auf der Liste stand, wurde gefeuert. So schuf man sich viele willfährige Mitarbeiter, die alles für das Unternehmen machten. Und die Wirtschaftsprüfer? Haben die nichts bemerkt? Doch, haben sie. Sie haben sogar mitgeholfen. Damals gehörte Arthur Andersen zu den größten Wirtschaftsprüfungsgesellschaften. Nachdem der Betrug aufflog, war es das Ende der Beratungs- und Prüfungsgesellschaft. Der Gesetzgeber reagierte mit ein paar Gesetzen. Beraten und prüfen gleichzeitig ist seitdem nicht mehr erlaubt. Betrug wird so zwar nicht verhindert, die Hürden dafür aber etwas höher gelegt.

 

Drittes erkennbares Muster:

Für einen ausgefeilten milliaradenschweren Betrug benötigt man ein gewisses kriminelles Netzwerk.

 

In Deutschland verkaufte ein Herr Schmider über dreitausend Bohranlagen in seiner Phantasie. Real waren es nur wenige hundert. Der Gründer der Firma Flowtex, Herr Schmider, sein CFO und etliche weitere Akteure bauten ein vielschichtiges Betrugsmodell auf, um fiktive Verkäufe real erscheinen zu lassen. Seriennummern auf den Bohranlagen wurden immer wieder verändert, um so die Herstellung und den Verkauf neuer Anlagen vortäuschen zu können. Das Geld ergaunerten sich die Beteiligten, indem Sie die fiktiven Anlagen an Banken verkauften und wieder zurück leaste. Um die Leasingraten bezahlen zu können, mussten immer mehr fiktive Anlagen vorgegaukelt werden. In späteren Prozessen wurde Schmider Größenwahn attestiert.

 

Viertes erkennbares Muster:

Die Betrüger halten sich für genial und überlegen. Eine gewisse Tendenz zum Größenwahn kann ausgemacht werden.

 

Die Liste mit großen Bilanzierungsskandalen lässt sich noch lange weiterführen. In meinem Buch Bilanzen erstellen und lesen für Dummies gibt es ein Kapitel mit zehn Bilanzierungsskandalen. Wer sich also für die Scott and Bernie Show oder für die Kapitalvernichtung mit Kermit interessiert kann hier mal reinschauen.

 

Der Fall Wirecard. Was bisher bekannt ist. Das ehemalige Vorstandsmitglied Jan Marsalek besitzt zehn Pässe und hat Kontakte zu Geheimdiensten, so wohl auch zum russischen Geheimdienst FSB. Wohl auch, da Wirecard geschäftlich stark in Russland involviert war. Ihm werden Beziehungen und Pläne im Umfeld des lybischen Bürgerkriegs nachgesagt. Dort wollte er angeblich eine Söldnertruppe als Grenzpolizei aufbauen, so berichten einige Zeitungen. Damit nicht genug. Nach dem Giftattentat auf einen früheren russischen Agenten in England in 2018 hat Marsalek in London angeblich damit angegeben, die Formel des dabei verwendeten Nervenngifts zu kennen. Damit ganz kurz erstmal genug von solchen Abenteuerstories. 

Jetzt dafür ein Blick auf einen Artikel, der im Magazin Finance im Januar erschien. Zugegeben, ich lese das Magazin regelmäßig, aber so einen Artikel hatte ich bis dato noch nie bei Finance gesehen. Kurz zweifelte ich daran, ob ich das wirklich gerade da gelesen hatte. Der Artikel mit dem Titel »Finance und die Causa Wirecard« von Michael Hedtstück dreht sich um den sogenannten »Zatarra-Report«. Der unbekannte Info-Dienst Zatarra hatte im Jahr 2016 in einem Report behauptet, dass es bei Wirecard Betrug und Geldwäsche gäbe. Der Kurs der Wirecard-Aktie stürzte danach um zwanzig Prozent ab. Viele Branchenanalysten werteten den Report als Versuch der Kursmanipulation durch Zatarra. Der Wirecard-Vorstand reagierte ebenfalls auf den Report. Detektive wurden beauftragt, Analysten und Journalisten zu observieren. Als Vorwürfe laut wurden, dass das Ausspähen etwas zu weit ging, wurde von Wirecard ein Statement verfasst, indem es hieß, dass die beauftragten Ermittler sich wohl verselbständigt hatten. Die Finance-Redaktion wurde, da auch betroffen, ob einer solchen Reaktion hellhörig und googelte den Report im Netz und überprüfte ihn. Natürlich auch darauf, ob Zatarra unlauter handelte und aus dem verursachten Kurssturz Kapital schlagen möchte. Der Zatarra-Report erschien plausibel, ob er der Wahrheit entsprach konnte jedoch nicht nachgewiesen werden. Wirecard wies die Vorwürfe stets zurück und beteuerte, sein Geschäftsmodell auf diese Kritikpunkte hin zu überprüfen und stets zu verbessern. 2018 gelang Wirecard dann der Aufstieg in den Dax auf und löste dort die Commerzbank ab. Dennoch gab es danach weiter Vorwürfe über die auch das Magazin Finance kritisch, aber natürlich auch neutral berichtete.

 

Die Financial Times berichtete dann Anfang 2019, dass Kunden und Umsätze in Singapur nur erfunden worden seien. Die Zeitung wurde daraufhin von Wirecard verklagt und in juristische Auseinandersetzungen gezogen. Auch die Finanzdienstleistungsaufsicht BaFin zeigte die betreffenden Journalisten der Financial Times an. Eine Anwaltskanzlei in Singapur prüfte die Vorwürfe, konnte aber keine wesentlichen Manipulationen finden. Der Financial Times Journalist Dan McCrum hatte bereits im Jahr 2015 Hinweise auf Unstimmigkeiten erhalten und berichtete immer wieder über Wirecard. So ging der Clinch zwischen der Financial Times und Wirecard über Jahre. Neben Dan McCrum berichtete Stefania Palma ebenfalls. Alle Berichte der Financial Times wurden zur Reihe »House of Wirecard« zusammengestellt.

 

Soweit zur Frage, wer wann etwas wusste oder gewarnt hat. Jetzt noch zum Punkt, warum die Wirtschaftsprüfer alle Jahresabschlüsse trotz Manipulation abgesegnet haben. Wie war es möglich, den Betrug jahrelang zu vertuschen? Wie können 1,9 Milliarden Bankguthaben einfach vorgetäuscht werden? Mitarbeiter der von Wirecard mit einem Prüfbericht beauftragten Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG haben im März 2020, als die Vorwürfe gegen Wirecard immer massiver wurden, einer der beiden Banken in Asien direkt besucht. Eine dortige Bankangestellte bestätigte damals den KPMGlern mündlich, dass es die Konten gibt. Später heißt es von den Banken, dass es sich um kriminelle Bankmitarbeiter gehandelt haben soll und Wirecard kein Kunde bei der Bank sei. Die Wirtschaftsprüfer von Ernst & Young kommen dann damit zu dem Ergebnis, dass es keinen Nachweis für die angeblichen Bankguthaben in Höhe von 1,9 Milliarden gibt. Das Ende von Wirecard.

 

 

Jetzt lege ich die vier erkennbaren Muster über den Fall Wirecard. 

 

Erstes Muster: Es wurde über Jahre eine tolle Illusion aufgebaut mit schönen Wachstumskurven ohne hässliche Rückschläge. Jeder will dabei sein bei der tollen Party. Eben eine märchenhafte Erfolgsstory. 

 

Zweites Muster: Das Geschäftsmodell war so kreativ komplex, dass es nicht so leicht durchschaubar war. Es bedurfte der intensiven, jahrelangen Recherche von Wirtschaftsjournalisten, um auf den Betrug zu kommen. Die Frage, warum die Wirtschaftsprüfer die Jahresabschlüsse abnahmen wird sicher noch zu klären sein. Hier wird wohl auch die Frage im Mittelpunkt stehen, mit welcher krimineller Energie Sachverhalte vorgetäuscht wurden, so dass die Prüfer keine Chance hatte, sie zu entdecken oder doch?

 

Drittes Muster: Das Netzwerk. Der CEO Markus Braun, der COO Jan Marsalek und der CFO sowie ein Chefbuchhalter arbeiteten im Netzwerk. 

 

Viertes Muster: Charakterzüge: genial, überlegen, gewisse Züge von Größenwahn. Die abenteuerlichen Geschichten rund um den COO besitzen eine gewisse Nähe zum vierten Muster.

 

Schlussfolgerung: Kaufe niemals Aktien von einem Unternehmen, dessen Geschäftsmodell seit Jahren aalglatt nur eine Richtung kennt: steil aufwärts mit immer neuen tollen Zahlen, dessen Geschäftsmodell du nicht wirklich durchschaust, während parallel immer wieder Vorwürfe der Bilanzmanipulation auftauchen. Wenn obendrein einer oder alle Topmanager mit verrückten, zwielichtigen Stories aufwarten, lasse besser die Finger davon, falls du nicht sehr risikofreudig bist. Folgst du dieser Handlungsempfehlung, hast du zwar immer noch keinen hundertprozentigen Schutz gegen Betrug, aber das Risiko dein Geld zu verjuxen schon stark reduziert. Klar, die eine oder andere Gelegenheit schneller und hoher Gewinne entgeht dir dann auch.